Schwarz vor den Augen
Herold war unlängst beim Augenarzt und erfuhr dabei viel Interessantes, sowohl über die behandelnde Ärztin als auch über andere Menschen im Wartezimmer:
Die Patienten werden dort von einer resoluten Dame in reiferem Alter und weißem Mantel betreut, die auf den ersten Blick kompetent und freundlich wirkt. Herold legte daher bei seiner Ankunft gleich die E-Card vor und wurde – auch für alle übrigen, eventuell schwerhörigen Wartenden gut verständlich - mit Titel und Namen begrüßt und aufgefordert, Platz zu nehmen. Leider konnte er sich nicht konzentriert dem Studium der Zeitschriften jüngeren Datums (Sommer 2006) widmen, weil die Office-Managerin gleich darauf ein viel interessanteres Telefonat führte:
„Die Frau Doktor ist meine Nichte ............ Soll ich den ganzen Tag daheim bleiben und meinen Mann bewundern?“
Bedauerlicherweise musste dieses Gespräch vorzeitig beendet werden, weil eine junge Frau die Ordination betrat und sich vor das Pult stellte.
Mit einem Blick auf den Monitor und dem Satz „Letztes Mal ist da noch ‚gravid‘ gestanden“ informierte die "Seele der Ordination" überlegen und freundlich lächelnd alle Anwesenden über die zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen.
Herold konnte jedoch nicht lange über den Verbleib des Kindes grübeln, weil gleich darauf die nächste Kundschaft das Zimmer betrat:
„Gratuliere zu Ihrem neuen Status!“ begrüßte die Tante eine Frau in ebenfalls fortgeschrittenem Alter, die über diesen Glückwunsch offensichtlich nicht erfreut war und überhaupt nicht darauf einging.
Was Herold wiederum ins Grübeln über diesen Status brachte .....
Aber auch zwischendurch, während die Tante Unterlagen zur „Frau Doktor“ und zurück brachte, bemühte sie sich stets um das Wohl der Anwesenden. So richtete sie an einen Mann, der noch vor Herold gekommen war, die besorgte Frage:
„Herr Professor, Sie haben jetzt aber keine Vorlesung?“
Das nächste Telefonat – eine Terminvereinbarung – brachte wieder Licht in die Familienverhältnisse ärztlicherseits:
„In der Energiewoche sind wir nicht da, die Frau Doktor hat nämlich zwei Kinder.“
Und weiter: „Die Gesichtsfelduntersuchung macht die Nichte der Frau Doktor. Sie ist gescheit und hübsch und hat mit Auszeichnung promoviert.“
Womit das interessierte Publikum die endgültige Gewissheit hatte, in einem florierenden Familienbetrieb gelandet zu sein.
Im Laufe dieses Vormittages gab es noch viel Aufschlussreiches in Form von Co-Therapie, Maßregelungen und versteckten Botschaften. Herold kann daher mit gutem Gewissen behaupten, dass ein halber Tag in dieser Ordination wie eine Grundschulung beim Nachrichtendienst ist - zwar ohne Waffe, aber mit Auge und Ohr.
herold - 2007.02.05, 08:54
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